In diesem Teil unserer Kolumne „Pädagogische Handlungskonzepte“ beschäftigt sich unsere Autorin Svenja Gleffe mit dem Situationsansatz.
Wie entstand der situative Ansatz?
Dieses Handlungskonzept hat unterschiedliche Ursprünge:
- Paulo Freire (1921–1997), ein brasilianischer Pädagoge, engagierte sich für die Öffnung von alten Denk- und Handlungsstrukturen im pädagogischen Bereich.
- Die Bewegung „Community Education“ trat mit dem Ziel, die Verbindung zwischen Leben und Lernen im Gemeinwesen zu fördern hervor.
- Saul B. Robinsohn (1916–1972), ein Bildungsforscher, Pädagoge und ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin beeinflusste Jürgen Zimmer positiv mit der Aussage, dass Bildung die Ausrüstung des Menschen sei, um zu richtigem und wirksamem Verhalten zu gelangen.
Jürgen Zimmer (1938–2019) leitete als Psychologe in den 1970er-Jahren die Arbeitsgruppe „Vorschulerziehung“, welche ihm vom „Deutschen Jugendinstitut“ München (DJI) übertragen wurde. Im Jahr 1996 gründete Zimmer die „Internationale Akademie“ (INA). Dort integrierte er das Institut für den Situationsansatz (ISTA).
Aus den Quellen seines reformpädagogischen Elternhauses, der Begegnung mit der Elementarpädagogik und seiner Auseinandersetzung mit den pädagogischen Erkenntnissen von Saul B. Robinsohn konzipierte Jürgen Zimmer mit seinem Team den Situationsansatz.
Zimmer bezog für die Entwicklung des Konzeptes mehrere Personen mit ein, um den Ansatz in der Praxis so gut, wie möglich umsetzbar zu machen.
Der Situationsansatz ist bis heute in Deutschland ein beliebtes Handlungskonzept und bietet eine gute Grundlage für viele Bildungspläne in der frühkindlichen Arbeit.
Das Bild vom Kind
Der Fokus liegt bei diesem Konzept auf der Selbstständigkeit des Kindes. Das Kind wird als neugieriger Mitgestalter wahrgenommen, welcher sich aktiv mit etwas auseinandersetzt und seine Erfahrungen sammeln und teilen möchte.
Diese sammelt es in diesem Handlungskonzept in altersgemischten Gruppen. Dabei wird die soziale Kompetenz und Empathiefähigkeit gestärkt.
Ziele der Pädagogik
Der Situationsansatz richtet sich nach demokratischen Grundwerten. Daher sind folgende Ziele fest verankert: Autonomie, Solidarität und Kompetenz.
Das Lernen findet nicht nur in altersgemischten Gruppen statt, sondern auch in einem bunten sozialen und kulturellen Kreis. So lernt jedes Kind zum einen von Anfang an viele unterschiedliche Kulturen kennen und ihre Lebenswelten zu verstehen. Zum anderen wird es dazu angeregt, sich seine Lebenswelt selbstbestimmt, kompetent und verantwortungsvoll zu gestalten. Durch die aktive Teilhabe am realen Leben, eignet sich das Kind Wissen und Fertigkeiten an.
Der situative Ansatz beinhaltet die folgenden drei Strukturelemente als Ziel:
- das Kind in der Auseinandersetzung mit sich selbst
- das Kind in der Auseinandersetzung mit anderen
- das Kind in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt
Ein weiteres Merkmal und zugleich ein Ziel ist es, das Kind in seinen Entwicklungsphasen und seinen Bedürfnissen zu verstehen und nicht unter dem Aspekt der „Entwicklungsnorm“ zu beobachten. Denn ist das Verständnis für die Entwicklungsphasen und Bedürfnisse gegeben, ist es möglich, es in allen Kompetenzbereichen bestmöglich zu unterstützen und zu fördern.
Ein weiteres bedeutsames Ziel ist, das Kind in Ausgangsprozessen zu unterstützen.
Gesellschaftliche Themen wie Freundschaft, Anerkennung, Inklusion, Ausgrenzung, Regeln, Konflikte, Werte und vieles mehr wollen jedem Kind erklärt und vermittelt werden.
Somit ist es jedem Kind möglich zu erkennen, dass es in jeder sozialen Gruppe unterschiedliche Bedeutungen gibt. Sie werden darin unterstützt, die Vielfalt anzuerkennen und als Chance für ein Leben in einer bunten Gesellschaft zu verstehen. Das ist ein wichtiges Ziel in der pädagogischen Arbeit. Die Kinderrechte werden in Form von gelebter Partizipation umgesetzt.
Methodisch-didaktischer Ansatz
Der methodisch-didaktische Ansatz dieses Handlungskonzeptes richtet sich nach folgenden 16 Grundsätzen:
- Soziale und kulturelle Lebenssituationen der Kinder sind die Basis für die pädagogische Arbeit.
- Schlüsselsituationen und -erlebnisse werden im regelmäßigen Dialog mit dem Kind, den Eltern/Erziehungsberechtigten und anderen Bezugspersonen erfasst.
- Pädagogische Fachkräfte erfassen das Wissen und die Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes und eröffnen diesem Wege und Möglichkeiten diese zu erweitern.
- Pädagogische Fachkräfte unterstützen die „geschlechtsspezifische Entwicklung“ von Mädchen und Junge. Stereotype Rollenzuweisungen werden nicht vorgenommen.
- Die Fantasie und Kreativität jedes einzelnen Kindes werden unterstützt und gefördert.
- Die altersgemischte Gruppe ermöglicht es den Kindern, sich in ihrer Entwicklung gegenseitig zu unterstützen.
- Durch die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung des Lebens in der Kita wird jedes Kind in seiner Selbstständigkeit unterstützt.
- Es findet eine bewusste Auseinandersetzung mit Regeln, Normen und Werten statt.
- Die Einrichtung orientiert sich an den Anforderungen und Möglichkeiten, die eine kulturelle Vielfalt mitsichbringt.
- Kinder mit erhöhtem Förderbedarf und unterschiedlichen Entwicklungsvoraussetzungen werden in der Einrichtung integriert.
- Die Räumlichkeiten sind anregungsreich gestaltet, damit jedes Kind in seiner Entwicklung unterstützt wird.
- Pädagogische Fachkräfte sind Lehrende und Lernende zugleich.
- Die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern/Erziehungsberechtigten ist wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit.
- Die Vernetzung und Beziehung zwischen sozialpädagogischen Einrichtungen und dem Umfeld der Einrichtungen gehört ebenfalls zur pädagogischen Arbeit.
- Die Basis für eine gelungene pädagogische Arbeit ist die Beobachtung und Dokumentation sowie die Analyse, Auswertung und Planung von Situationen. Diese wird fortlaufend weitergeführt.
- Sozialpädagogische Einrichtungen sind lernende Organisationen, die ihre Kenntnisse fortlaufend aktualisieren.
Die Bildungssituationen beschränken sich nicht nur auf Angebote oder Projekte. Auch alltägliche Situationen wie das Wickeln, Essen, etc. gehören dazu.
Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen dabei jedes Kind in seinem Forscherdrang. Denn die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten ist im situativen Ansatz an das unmittelbare Erleben und Handeln geknüpft.
Materialien
Im Handlungskonzept des „Situationsansatzes“ werden in den Einrichtungen Materialien des alltäglichen Lebens eingesetzt. Im Spiel konstruieren und rekonstruieren die Kinder ihre Lebenswirklichkeiten. Sie verarbeiten im Spiel nicht nur bereits Erlebtes, sondern entwickeln und „üben“ neue Möglichkeiten, auf bestimmte Situationen zu reagieren.
Im situativen Ansatz nimmt die Projektarbeit viel Raum ein und hat eine große Bedeutung. An der Planung und Durchführung nehmen die Kinder aktiv teil. Auch die Eltern/Erziehungsberechtigten werden intensiv mit einbezogen. Das Material wird somit auch an aktuelle Projektthemen angepasst. Im Situationsansatz wird ein Raum bzw. die Gestaltung dessen ebenfalls als Material verstanden.
Jürgen Zimmer stellte dazu 10 Raum-Regeln zusammen, die es pädagogischen Fachkräften leichter machen sollen, eine anregende und fördernde Umgebung zu schaffen:
- Die Räume werden vom Kind mitgestaltet.
- Jeder Raum ist veränderbar.
- In einem Raum spielt sich verschiedenes zur gleichen Zeit ab.
- Räume sind offen.
- Ein Raum macht unterschiedliche Kulturen sichtbar.
- Ein Raum passt sich Menschen mit Barrieren an. Nicht umgekehrt.
- Ein Raum ist ein umweltfreundlicher Ort.
- In einem Raum ist weniger mehr und Ästhetik erwünscht.
- Ein Raum spricht alle Sinne an.
- Ein Raum enthält herausforderndes Material.
Die Rolle der pädagogischen Fachkraft
Pädagogische Fachkräfte, die nach dem Situationsansatz arbeiten, begleiten, ermutigen und unterstützen. Eine Situation wird in folgenden Schritten analysiert:
- Schritt: erkunden – Situation analysieren
- Schritt: orientieren – Ziel formulieren
- Schritt: Handeln – Situation gestalten
- Schritt: Nachdenken – Erfahrungen auswerten

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