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Passen Sie doch auf!

zwei Mädchen schneiden sich die Haare
© natalialeb – Adobe Stock

In ihrer neuen Kolumne „Passen Sie doch auf!“ wirft Tanja Siepmann einen Blick auf die neue behütete Kindheit und auf die Aufsichtspflicht von pädagogischen Fachkräften.

Friseurtermin im Rollenspielraum

Mittagszeit in der Kita. Lotti und Meike haben sich, mit Erlaubnis, vor etwa einer halben Stunde in den Rollenspielraum verzogen. Ich mache mich auf den Weg dorthin, um die Zwei zum Aufräumen zu bewegen. Beim Öffnen der Tür sehe ich noch, wie Meike versucht etwas hektisch hinter dem Puppenherd verschwinden zu lassen. Lotti schaut mich mit unschuldigen Augen und hinter dem Rücken versteckten Händen an. Hier liegt was in der Luft, und meine pädagogische Spürnase sagt mir, dass das vermutlich Ärger ist. Lottis Augen sehen nicht nur unschuldig aus, sondern auch irgendwie größer als sonst. Um genau zu sein, kann ich viel mehr von ihrer Stirn sehen, als ich es gewohnt bin. Die Erkenntnis trifft mich unvermittelt und hart. Lotti hat sich die komplette Ponypartie abgeschnitten. Ich schaue mir auch Meike genau an. Sie hatte offensichtlich ebenfalls einen Friseurtermin. Ihr Deckhaar auf dem Oberkopf ist Handtellergroß auf ca. 5 mm gekürzt. Ein Blick hinter dem Puppenherd offenbart mir eine Mischung aus frisch abgeschnittenen blonden und braunen Haarsträhnen. Das Tatwerkzeug, eine kleine Bastelschere, befindet sich noch immer in den Händen von Lotti, die sie verzweifelt hinter ihrem Rücken zu verbergen versucht. Mir fällt alles aus dem Gesicht und meine Fassung gleich hinter her.

Scherenschmuggler

Mein wortloses Entsetzen und die Erkenntnis, das ab bleibt, was ab ist, veranlasst die beiden Jungfriseurinnen dazu in Tränen auszubrechen. Ich würde am liebsten auch losheulen, aber ich darf ja nicht, ich bin die Erzieherin. Damit hatte ich die Aufsichtspflicht und bin mitverantwortlich für das Desaster hier. Ich habe den beiden Mädchen erlaubt in den Rollenspielbereich zu gehen. Davon das eine Schere mit von der Partie ist, war zwar nie die Rede, die müssen die Mädchen heimlich mitgeschmuggelt haben, aber dennoch hätte ich öfter ein Auge auf den Rollenspielbereich werfen müssen. Stattdessen habe ich mich auf die Zuverlässigkeit der beiden verlassen, die sie bis zu diesem Tag gezeigt haben.

Haare wachsen wieder, aber ob die Eltern das genau so sehen?

Meine Kolleginnen haben jedenfalls großen Spaß, als ich ihnen aufgebracht berichte, was sich gerade hinter verschlossener Tür zugetragen hat. Sie müssen ja auch nicht den Eltern gegenübertreten und die Hiobsbotschaft übermitteln. Diese Aufgabe obliegt mir und ich kann frei nach den Söhnen Mannheims sagen, „Dieser Weg wird kein leichter sein“.

Ich hatte Glück! Beide Mütter zeigten Humor und beide waren sich sicher, dass dies in ihrer Obhut ebenfalls hätte passieren können. Aber mir ist diese Geschichte in Erinnerung geblieben, als wäre sie gestern gewesen und meine Einstellung zur Aufsichtspflicht hat sie maßgeblich verändert. Ich bin zwar nach wie vor der Meinung, dass auch Kitakinder das Recht auf unbeobachtetes Spiel haben und ich führe keine Leibesvisitationen durch, bevor sie sich in solche Räume zurückziehen dürfen. Aber die Intervalle in denen ich den Akteuren einen Besuch abstatte, sind deutlich kürzer geworden und mein Vertrauen hat einen Dämpfer bekommen.

Kalkuliertes Risiko

Nun sind abgeschnittene Haare nicht schön, aber keine Gefahr für Leib und Leben. Pädagogische Fachkräfte tragen eine hohe berufliche Verantwortung. Unser Auftrag liegt auch darin, dass Verletzungsrisiko für die uns anvertrauten Kinder möglichst gering zu halten und ihnen dabei ein hohes Maß an Experimentierspielraum zu bieten. Zudem handelt es sich bei unserer Klientel um Menschen, die sich sowohl kognitiv als auch motorisch noch in der Entwicklung befinden. Kleine und große Missgeschicke sowie Unfälle sind da quasi unvermeidlich. So befinden wir uns häufig im Zwiespalt zwischen Verantwortung und vertretbarem Risiko.

Aufsichtspflicht in der Kita

Es liegt in meinem Interesse, dass die mir anvertrauten Kinder die Kita im gleichen unversehrten Zustand verlassen, wie sie sie betreten haben.

Die Verletzung der Aufsichtspflicht kann zivilrechtliche, strafrechtliche und arbeitsrechtliche Folgen für pädagogische Fachkräfte haben, aber wer sich auf die Suche nach genau definierten Kriterien begibt, wann eine Verletzung der Aufsichtspflicht vorliegt, wird keine eindeutige Antwort erhalten. Die unendliche Zahl von möglichen Vorkommnissen und Konstellationen im Einzelfall machen es unmöglich eine ausreichende Aufsichtspflicht zu definieren.

Grobe Richtlinien ergeben sich aus gerichtlichen Einzelfallentscheidungen, die sich auf die Umstände der jeweiligen Situation beziehen und aus gesundem Menschenverstand. Maßgeblich ist, ob die Entscheidung, unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses des Kindes, pädagogisch nachvollziehbar ist. Wir müssen und also immer die Frage stellen, ob das jeweilige Kind körperlich, kognitiv und emotional in der Lage ist, die Herausforderung zu meistern und welche Ziele wir verfolgen. Aber selbst, wenn wir diese Fragen positiv beantworten können, ergibt sich daraus keine Sicherheitsgarantie.

Vorverurteilungen der Eltern

Zum Glück müssen sich nur die wenigsten von uns tatsächlich wegen Verletzung der Aufsichtspflicht vor Gericht verantworten. Dafür müssen sich viele pädagogische Fachkräfte aber den Vorverurteilungen der Eltern stellen. Egal ob verschmutzte Kleidung, Stürze, Verletzungen und auch Kinder, die sich unbemerkt von der Gruppe absetzten. Wir stehen unter dem Generalverdacht, die Aufsichtspflicht verletzt zu haben. Die Wahrheit ist, auch wenn wir unser Bestes geben, lässt sich keins dieser Vorkommnisse gänzlich ausschließen.

Unfälle passieren auch oder gerade bei wohlbehüteten Kindern!

Unterhält man sich mit Kolleginnen und Kollegen über die neue Generation Kinder, fällt auf, dass viele der kleinen Zukunftsträgern alltäglichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind. Ein Grund hierfür könnte sein, dass kalkulierbare Risiken aus dem Leben der Kinder eliminiert wurden und damit wichtige Lernerfahrungen. Treppen werden abgesperrt und Böden mit Fallschutzmatten ausgelegt, Wurzeln und Baumstümpfe werden von der Spielgelegenheit zur potenziellen Stolperfalle degradiert, Kinder werden an Buggys und Dreirädern festgeschnallt, Stifte dürfen nicht zu spitz angespitzt werden, Obst wird mit Buttermessern geschnitten und Kerzen sind nur noch batteriebetrieben.

Bei allen Sicherheitsgedanken haben wir vergessen, dass man verantwortungsvollen Umgang mit potenziellen Gefahren nur lernt, wenn man mit ihnen umgehen darf. Und es ist die Aufgabe von uns pädagogischen Fachkräften Kindern diese Lernerfahrung in einem möglichst sicheren Rahmen zu bieten.

Und die Hobby-Figaros?

Die schlimmste Verletzung, die ich bei einem Kind ohnmächtig miterleben musste, ist übrigens durch genauso eine Sicherheitsmaßnahme entstanden. Die Gruppentür, in die ein kleiner Finger geraten ist und die wegen des Feuerschutzmechanismus zu schwer und zu stark für Kinderhände war. Nadel, Faden und ein guter Handchirurg konnten alles wieder an seinen Platz bringen, aber diese Erfahrung hätte ich dem Kind gerne erspart.

Was aus meinen beiden Hobby-Figaros geworden ist? Die sind inzwischen Teenager mit wallenden Mähnen und fragen sich vermutlich beim Betrachten ihres Portfolios, warum sie als Kitakinder so ungewöhnliche Kurzhaarfrisuren hatten.

Kolumnistin Tanja Siepmann

Tanja Siepmann ist Erzieherin und freie Autorin.

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