Im neuen Teil der Kolumne „Das ist ja wie im Kindergarten“ geht Tanja Siepmann auf den Raum als dritter Erzieher ein und gibt anschauliche Beispiele wie sie neue Raumkonzepte geschaffen hat.
Handwerkerprofi und Dekoqueen
Ich liebe es Räume einzurichten und zu dekorieren. In der Vergangenheit kam es nicht selten vor, dass mein Mann am Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam und sich ganze Zimmereinrichtungen in anderen Räumen unseres Hauses befanden. Was sich irgendwie tragen, ziehen oder schieben ließ, hatte von mir einen neuen Platz zugeteilt bekommen. Statt des wohlverdienten Feierabends, erhielt mein angeheirateter Handwerkerprofi die Aufträge fürs Grobe. Derweil ich, ungeduldig im Hintergrund stehend, mit Vorhängen, Bildern und Dekoration in den Händen, auf meinen Einsatz wartete. Noch heute bekommt er Schweißperlen auf der Stirn, wenn er mich in Magazinen blättern sieht, die sich mit der Gestaltung von Wohnräumen befassen.
Vom Bastelraum zum Atelier
Natürlich machte meine Gestaltungsfreude auch nicht vor der Kitatür halt. Gemeinsam mit meiner damaligen Kollegin verwandelten wir einen typischen Bastelraum in ein Kreativ-Atelier, das mit seiner Materialbar selbst die größten Bastelmuffel dazu einlud, sich kreativ auszutoben. Gerahmte und ausgestellte Kunstwerke der Kinder sowie Kunstdrucke unterschiedlichster Stile boten Inspiration. Bonbongläser voller Glitzer, Federn und anderen Kostbarkeiten flüsterten, „bediene dich und mach was mit mir“. Farbregale nach Vorbild der Malräume von Arno Stern und eine riesengroße Leinwand luden zum kreativen Ausdruck mit Wasser- und Fingermalfarbe ein und ein Sofa stand zum Ausruhen und Beobachten bereit.
Von der Rennstrecke zum Raum für Bau und Konstruktion
Später wechselte ich in den Funktionsraum für Bau und Konstruktion und auch hier konnte ich es nicht lassen. Die große Raumfläche lud bis dato mehr zum Rennen und Toben als zum Bauen ein. Das verträgt sich bekanntlich nicht mit statisch labilen Bauwerken. Mit Regalen teilten wir den Raum in drei Spielbereiche ein. Der erste Spielbereich wurde zum Bauplatz. Bauzaun, Sicherheitshelme, Warnwesten, Wasserwagen, Zollstöcke und Schaumstoff-Ziegel warteten griffbereit in den Regalen auf ihren Einsatz. Von den Wänden brüllten Riesenposter vom Eifelturms und der Golden Gate Bridge: „Think big, build big“. Thematisch passende Bücher verstaubten nicht in Bücherkisten, sondern inspirierten ausgestellt auf Bilderleisten. Highlight dieses Spielbereichs war ein mit Tafelfarbe gestrichener Wandteil, auf dem die Kinder mit Kreide ihre Baupläne skizzieren konnten.
Der zweite Spielbereich bildete ein Podest, welches einen Sichtschutz aus Holz bekam. So entstand ein Raum im Raum, der unbeobachtetes Spiel möglich machte. Decken, Tücher und große Klammern lagen bereit, um beim Bau von Buden eingesetzt zu werden. Ein Spiegel an der Wand spiegelte die Bauwerke und ihre Meister.
Der dritte Spielbereich wurde mit niedrigen Regalen umrandet, die auf der Oberseite Sitzplatz für Groß und Klein boten. In ihren darunter befindlichen Fächern befanden sich farblich sortierte Duplosteine. Ein großer Spielteppich in der Mitte dieser Fläche machte Großbauprojekte und Gruppenkreise ohne kalten Hintern möglich, eine große Magnetwand machte vertikales Bauen mit Magnetsteinen möglich.
Um die „Rennstrecke“ in der Mitte des Raumes zu durchbrechen, boten wir auf einem niedrigen Tisch, zur Konstruktion geeignete Impulsmaterialien wie Korken, Bierdeckel, Eislöffel oder Pappbecher. Sie wurden ausgetauscht, wenn ihre Spielanregung auserzählt war. Wer nun zur Tür herein kam, erhielt keine Einladung mehr zum Toben, sondern eine optische Anregung zum Bauen und Konstruieren aus allen Spielbereichen.
Vorrausetzungen: offenes Ohr der Leitung und finanzieller Spielraum
Diese Umgestaltung war allerdings nur möglich, weil unsere Kitaleitung immer ein offenes Ohr für neue Ideen hatte und die nötigen Gelder dafür locker machte. Und dreimal dürfen sie raten, wer mich und meinen zu zwei linken Händen bekennenden Kollegen bei der Aktion unterstützte, richtig, mein Heimwerkerprofi.
Der Raum als dritter Erzieher – ein Konzept der Reggio-Pädagogik
Nun ist es nicht meine Idee, Räume so zu gestalten, dass sie zum Forschen und Spielen anregen. Der Raum als dritter Erzieher ist im Konzept der Reggio-Pädagogik schon lange ein elementarer Teil. Der Erziehungswissenschaftler Loris Malaguzzi hat früh erkannt, dass nicht nur die pädagogischen Fachkräfte auf die Kinder einwirken, sondern auch die konkrete Raumgestaltung. Möbel, Arbeits- und Spielflächen, Impulse, farbliche Gestaltung und Lichtkonzepte haben einen Einfluss darauf, ob und wie Kinder ins Spiel kommen. Eigentlich dürfte uns, dass nicht wundern oder sind wir nur an der nüchternen Funktion der Dinge interessiert, die wir in Mengen aus Deko Läden und Schwedischen Möbelhäusern nach Hause transportieren? Nein, wir wollen uns wohl fühlen. Es soll „hyggelig“ werden wie der Däne sagt.
Räume sind mehr als Stellfläche für Möbel
Ein Raum, der liebevoll gestaltet ist mit Bildern an den Wänden, weichen Teppichen auf dem Boden und einer Vielzahl von Materialien, die zum Greifen und Experimentieren einladen, ist kein gewöhnlicher Raum. Er ist eine Schatztruhe voller Möglichkeiten, in der die Fantasie der Kinder zum Leben erweckt wird und sie sich frei entfalten können. Er ermutigt sie, Risiken einzugehen, neue Dinge auszuprobieren und ihre Kreativität auszudrücken. Er stellt den Kindern Materialien aus der „echten“ Welt zur Verfügung, statt sie mit Attrappen aus buntem Plastik abzuspeisen und ermöglicht damit das echte Leben zu erforschen und zu bespielen.
Viel hilft viel ist bei der Raumgestaltung allerdings nicht die richtige Devise. Ein Raum, der überladen ist oder keine klare Struktur aufweist, kann genauso leicht zu Frustration und Verwirrung führen, wie ein Raum, der zu steril oder inspirierend ist. Entscheidend ist, dass pädagogische Fachkräfte sorgfältig überlegen, wie sie Gruppen- und Funktionsräume gestalten können, um sicherstellen, dass sie den Bedürfnissen und Interessen der Kinder entsprechen. Dabei sollten die Kinder die möglichste Form von Selbstermächtigung erhalten. Das bedeutet, sie sollten selbstständig Zugriff auf Materialien haben und nicht auf die Hilfe oder den guten Willen der Erwachsenen Person angewiesen sein.
Die Kinder zeigen uns durch ihr Verhalten, was sie brauchen
Ein Indikator für Bedürfnisse sind überraschender Weise meist die Dinge, die wir als pädagogische Fachkräfte im Alltag am meisten Maßregeln müssen. Das was Kinder tun, obwohl sie Grenzen damit verletzen, weißt in der Regel auf ein Bedürfnis hin. Büxt ein Kind beispielsweise regelmäßig in den Waschraum aus, um dort intensiv mit Wasser zu spielen, kann ich den Delinquenten wochenlang schimpfend und genervt zurückholen. Oder ich überlege mir, was ich in die Raumgestaltung integrieren kann, damit er dort die Möglichkeit bekommt, seine taktilen Bedürfnisse auszuleben. Meine „Rennmäuse“ im Bauraum wurden zwar durch die neue Raumgestaltung gebremst, um ihrem Bedürfnis nach Bewegung nachkommen zu können, brauchten sie aber an anderer Stelle und in anderen Räumen Angebote dies auszuleben.
Gut gestaltete Räume spielen aber auch eine entscheidende Rolle bei der Förderung sozialer Interaktionen. Ein Raum, der so gestaltet ist, dass er Gemeinschaft und Zusammenarbeit fördert, hilft den Kindern dabei, wichtige soziale Fähigkeiten wie Teilen, Kommunizieren und Konfliktlösung zu entwickeln. Gleichzeitig muss er Rückzug und unbeobachtetes Spiel ermöglichen.
Pädagogische Fachkräfte sollten sich also darüber bewusst sein, dass der Raum, in dem sich unsere Kinder bewegen, weit mehr ist als nur ein Ort zum Spielen und Lernen. Er ist ein stiller, aber dennoch entscheidender Akteur, der die Fantasie beflügelt.
Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, Räume zu schaffen, die nicht nur Orte der Bildung, sondern auch Orte der Liebe, des Forschens und des Lachens sind. Ich muss jetzt auch los, Schränke schieben und Akkuschrauber laden. Mein Mann kommt gleich nach Hause!

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